Karl Kraus stellte fest, dass es „wohl kaum einen Wiener gibt, der nicht felsenfest darauf bauen würde, dass er ein apartes Blut mitbekommen habe“ und dass der Wiener „überzeugt ist, daß überhaupt nur er ein Blut bekommen habe und kein anderer“. Darum wäre der Wiener höchst überrascht, wenn man ihm etwas „von einem feschen Petersburger Blut“ sagen würde. In Wien geboren zu sein, sagt Kraus weiter, hält der Wiener für eine Einzigartigkeit und wäre „sehr wohl imstande, bei der Ausfertigung eines Reisepasses darauf zu dringen, daß sein Geburtsort zugleich als besonderes Kennzeichen notiert werde.“
Karl Kraus untergräbt in seiner „Fackel“ die Wiener Selbstzufriedenheit und begründet die Ambivalenz, mit der wir heute das Wiener-Sein betrachten. Klischees tun sich auf, und man fragt sich, ob und wie viel an den Klischees wohl dran sei, was Wahrheit sei, was Wiener Schmäh. Der Schwarze Humor, der „Hamua“, eine seltsame Mischung aus Bosheit, Mitleid, Zukunftsangst, Weltschmerz und Aggressivität führte Peter Hammerschlag zu der Erkenntnis: „Krüppel haben so was Rührendes“. „Der Tod, das muss ein Wiener sein“, behauptete Georg Kreisler, (und fügte hinzu: „genau wie die Lieb’ a Französin“), wobei er sich auf die Wiener Heurigenlieder berufen durfte, in denen der Tod öfter vorkommt als die Liebe. Die offenbart sich in Klimt-Gemälden als versteckte, in Schiele-Zeichnungen als offensive, in frühen Aktfotos aus Wien als käufliche Erotik. Wiener Selbstbewusstsein verbindet sich in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ mit einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex, aus dem die Verwicklungen der „Parallelaktion“, dem Versuch, es Berlin gleichzutun, erwachsen.